Potenzialmanagement versus Fachkräftemangel

Der viel beschworene Fachkräftemangel ist nun schon seit längerem eines der vorherrschenden Themen in deutschen Personal- und Führungsabteilungen und wird insbesondere in der FM-Branche beklagt. Aber gibt es ihn tatsächlich, den quantitativen Mangel an kompetentem Personal? Oder tun sich Unternehmen heute vielleicht einfach schwerer, die richtigen Leute zu finden? Sowohl als auch, erklärt Brigitte Herrmann, Expertin für Personal- und Potenzialmanagement, und rät zu einem Umdenken im Recruiting.

„Zugegeben, es gibt eine generelle Verknappung des Arbeitskräfteangebots“, erklärt die Expertin. „Grund dafür ist zum einen die sinkende Zahl von Berufsanfängern und zum anderen das allmähliche Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Arbeitsleben. Pauschal einen Fachkräftemangel auszurufen, ist trotzdem übertrieben und wie aktuelle Erkenntnisse zeigen, auch einfach falsch. Unbestritten ist, dass in einigen Branchen – allen voran in IT- und Pflegeberufen und auch in handwerklichen Sparten – bereits heute ein echter Mangel besteht, der sich in den nächsten Jahren noch weiter verschärfen wird. Daran ist jedoch längst nicht nur der demografische Wandel schuld. Vielmehr haben falsche Unternehmens- und auch Recruiting-Strategien ihren Beitrag dazu geleistet.“

Schlechte Candidate Experience = Schlechtes Image

Als selbstständiger Headhunter hat Brigitte Herrmann in (zu) vielen Fällen miterlebt, wie im Rahmen von Personalauswahlprozessen und auch nach erfolgter Einstellung wertvollste Potenziale verschwendet werden. Eine traurige Recruitingrealität, die sich Unternehmen, die unter Fachkräftemangel leiden, noch weniger leisten können. Das Dilemma aktueller Missstände in Sachen Personalsuche und –auswahl beginnt jedoch meist schon bei der oft demotivierenden Behandlung von Bewerbern, weiß Brigitte Herrmann. Die sogenannte Candidate Experience wird leider noch allzu oft zur Negativerfahrung – mit fatalen Folgen, die den wenigsten Unternehmen bewusst sind. „Negative Bewerbererlebnisse werden heute – v.a. über soziale Medien – viel offensiver kommuniziert und ziehen damit deutlich größere Kreise als noch vor einigen Jahren. Frustrierte Kandidaten können der Arbeitgebermarke also deutlich mehr schaden und das kann sich aber angesichts rückläufiger Bewerberzahlen kein Unternehmen mehr leisten.“

Zauberwort Wertschätzung

Dabei sei es laut Herrmann ganz einfach, Bewerbern ein gutes Gefühl zu geben, selbst wenn es nicht zur Einstellung kommt: „Bewerber sollten schlicht und einfach so behandelt werden, wie jeder gerne selbst behandelt werden möchte. Mit Wertschätzung, echtem Interesse und auf Augenhöhe.“ Überhaupt sei eine solche respektvolle und wertschätzende Haltung der Schlüssel zu einem besseren Recruiting und Personalmanagement. Umso mehr, da sich der Arbeitgeber- mehr und mehr zum Arbeitnehmermarkt wandelt. Sprich Unternehmen müssen sich immer mehr ins Zeug legen, um die richtigen Mitarbeiter zu gewinnen.

Right Potential statt High Potential

Doch gerade vor dem Hintergrund des scheinbaren Mangels an Fachkräften stellt sich umso dringlicher die Frage: Wer ist der richtige Mitarbeiter bzw. die Fachkraft für eine Stelle und wie finden Unternehmen die richtigen Kandidaten? „Indem sie die Perspektive wechseln“, erklärt die Personalexpertin. Firmen dürften nicht mehr länger in Vakanzen denken und auf Biegen und Brechen die Fachkraft suchen, die ihrer Idealvorstellung entspricht und die Form einer zu besetzenden Stelle optimal ausfüllt. Meistens durch entsprechende Abschlüsse, Qualifikationen, Fachkompetenzen etc. Und in der Regel suchen Unternehmen dann noch nach dem Besten, dem High Potential. Eine Taktik, die nach Meinung von Brigitte Herrmann jedoch längst nicht mehr funktioniert. Zum einen weil Bewerberzahlen zurückgehen und die Auswahl quasi schrumpft und zum anderen weil Biografien schon lange nicht mehr linear und vergleichbar sind.

Erst der Bewerber, dann das Jobprofil

Wer aber stattdessen die Perspektive wechselt und das Pferd sozusagen von hinten aufzäumt, wird positiv überrascht werden. „Eine starke Recruiting-Kultur setzt am anderen Ende der Wirkungskette an und stellt den Bewerber oder besser den Menschen mit seinem individuellen Profil in den Vordergrund.“ Das heißt, es geht um Qualifikationen, Kompetenzen und vor allem die individuellen Stärken und Interessen eines Kandidaten unabhängig von den Vakanzen des Unternehmens. Diese gilt es zu ermitteln und mit dem Unternehmensbedarf abzugleichen, um daraufhin die beste Einsatzmöglichkeit für einen Bewerber zu finden. Schließlich entfaltet sich Potenzial dann am besten, wenn ein Mensch passend zu seinen individuellen Stärken und Interessen den nötigen Raum bekommt, um an beruflichen Herausforderungen zu wachsen.

 

Buchtipp

Auswahl

Alte Strategien in puncto Personalsuche und -auswahl funktionieren schon längst nicht mehr und bieten erst recht keine Lösung für Probleme wie Fachkräftemangel & Co. Wie eine zukunftsfähige Recruiting-Kultur stattdessen funktionieren kann, verrät Brigitte Hermann in ihrem neuen Buch „Die Auswahl“, das im März im Wiley Verlag erschienen ist.

Die Auswahl

Wie eine neue starke Recruiting-Kultur den Unternehmenserfolg bestimmt

von Brigitte Herrmann

302 Seiten, Gebunden

€ 19,99

ISBN 978-3-527-50864-8

Verlag: Wiley-VCH